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Sophie
(1770-
 
 Mereau
1806)
 
 
 
Erinnerung und Phantasie
 
Warum ergießt sich nur der Schwermut Schauer
aus deiner Schale mir, Erinnerung?
Warum bewölkt der Sehnsucht stille Trauer
der Seele Blick mit trüber Dämmerung?
 
Sie flattert ängstlich mit gelähmten Flügel
um Blüten der Vergangenheit, enteilt
auf ewig, wie bei seinem Grabeshügel
ein armer unversöhnter Schatten weilt.
 
Und wie nach Edens seligen Gefilden
zu späte Reu' mit nassem Blicke dringt,
schaut sie zurück nach luftigen Gebilden,
die keine Hoffnung je ihr wiederbringt.
 
Ist dies dein Glück, o du, im Mondenglanze,
Erinnerung? dies deine Seligkeit?
O, fleuch von mir mit deinem welken Kranze,
und überlaß mich der Vergangenheit.
 
Entführe du auf deinen muntern Schwingen,
o Phantasie, mich diesem finstern Harm!
Schon fühl' ich Kraft durch jeden Nerven dringen,
und fliehe leichter aus der Schwermut Arm.
 
Du, Göttliche, du schwelgst im Wesenkranze,
nicht ängstlich an die Gegenwart gebannt,
entzückt umher; dir strahlt im Sonnenglanze
die Unermeßlichkeit, dein Vaterland.
 
Der armen Notdurft kärglichem Gebiete
entschwingst du, Allumfassende, dich kühn,
und stürzest dich, berauscht vom Sphärenliede,
ins Flammenmeer der Ideale hin.
 
Dich fesselt nicht das ird'sche Maß der Zeiten,
des Raumes nicht; mit Himmlischen verwandt,
genießest du im Reich der Möglichkeiten
ein Glück, das keine Wirklichkeit umspannt.
 
Vergebens hüllt ein unauflösbar Siegel
den Sterblichen die ferne Zukunft ein;
zurückgestrahlt aus deinem Zauberspiegel,
geht sie hervor in schönem Dämmerschein.
 
Als Mitgenossin teilest du die Schätze,
die tief im Schoß der fernen Nachwelt blühn,
und lösest kühn der Endlichkeit Gesetze,
daß von Unsterblichkeit die Seelen glühn.
 
Beflügle mich! schon bricht aus schwarzer Hülle
der Hoffnung lichtes Morgenrot hervor.
Die Welt ist schön, und schön're Lebensfülle
schäumt mir aus deinem Zauberkelch empor.