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Maria
(1859-
 
 Janitschek
1927)
 
 
 
Glückseligkeit
 
Durch mein Fenster kommt der leise Vollmond,
kommt und küßt mich zärtlich auf die Lippen,
»Thörichte, so kalt und lustverschlossen,
willst du nicht von meinem Tranke nippen?
 
Sieh, schon lange bin ich tot, und dennoch,
helle Friedensströme gießt noch immer
mein erloschen Sein auf deine Menschheit,
denn es stirbt die Saat der Lichten nimmer«.
 
Stirbt sie wirklich nicht, du leiser Vollmond?
Wird dereinstens auch von meinen Bahnen
milder Glanz in müde Seelen träufeln
und sie an ein flammend Leben mahnen?
 
Aber nein, mein lieber leiser Vollmond,
will nicht denken an den Tod, den herben,
denn, daß ich dirs sag, nicht träumen kann ichs,
und nicht ahnen, wie es ist: zu sterben.
 
»Wie es ist? So lausche!«
                                  Lautlos schwindet,
wie von kühlen Flügeln fortgetragen,
aus dem Kämmerlein der leise Vollmond,
Finsternisse aneinander jagen ...
 
Dunkles Huschen, Flüstern, eisige Hauche.
Mir beengt die Brust ein banges Sorgen ..
Da zerreißt die Nacht, im goldnen Rauche
steigt empor ein siegeslichter Morgen.
 
Das hieß sterben? Aus dem einen Leuchten
in das andre Leuchten weich versinken?
O mein lieber, weiser, stiller Vollmond,
lasse mich von deinem Glanze trinken! ..