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Jacob Grimm (1785-1863)
Die deutschen Schriftstellerinnen des neunzehnten Jahrhunderts. Rezension (1822)
Bei F. A. Brockhaus: 1823: die Deutschen Schriftstellerinnen des neunzehnten Jahrhunderts von Carl Wilhelm Otto August von Schindel. Leipzig, Erster Teil A-L. XXXII und 384 S. in 8.
Die Schreibart des Herausgebers ist nicht ganz untadelhaft, häufig kommt der Ausdruck: ein pseudonymer Namen vor. Eine mögliche Menge von Zusätzen, Berichtigungen, Deutungen mögen andere Blätter liefern, die sich nicht scheuen, hier mitunter in Wespennester zu stoßen; den Eindruck, welchen das Ganze auf ihn gemacht hat, will Rez. nicht verhehlen. Hätte Hr. von Schindel, statt nach Meuselscher Allgemeinheit zu trachten, von den beiden Künsten, denen sich weibliche Schriftstellerei hingibt, die eine ausgeschlossen, also die Kochbücher (deren Autorschaft doch schon von anderen Literatoren registriert wird) übergangen, so würde zuvörderst der Titel die nötige Bestimmtheit: Deutsche Dichterinnen erlangt haben. Theologie, Jurisprudenz, Medizin und die andern Wissenschaften befahren nichts von unseren Schriftstellerinnen weder des neunzehnten Jahrhunderts noch der früheren, (Caroline Herschel gehörte, samt einigen andern, nicht in die Reihe); Gedichte, Romane, einige Reisebeschreibungen haben sie geliefert. Ist in jenen Wissenschaften etwas unweibliches gelegen, überschreitet eine Frau als Gesetzgeber, als Richter, als Priester die allen Völkern heilige Schranke der Natur, warum schiene die Poesie etwas Anderes, als ein Amt und Geschäft der Männer? Die ganze Geschichte lehrt es uns so. Durch öffentliches Vortreten und Lautwerden versehrt das Weib seine angeborne Sitte und Würde. Wahre Dichtkunst läßt sich nicht abfinden, sie fordert nicht das Geringe, vielmehr das Hohe und Reine, sie fordert, daß der Dichter frei aus ungehemmter Brust singe. Wie kann eine Frau das Ereignis einer Liebe, eines Kusses vor aller Welt erzählen? Frauen ist die Gabe eigen, mit unglaublicher Gewandtheit die Verhältnisse eines Hauses, einer Gesellschaft zu erschauen, die Gabe, mit zartester Feder diese Beobachtungen innig vertrauten Personen mitzuteilen; fast jede Literatur besitzt einige solcher Sammlungen voll unnachahmlicher Natürlichkeit, die nach dem Tode ihrer Verfasserinnen zuweilen bekannt gemacht worden sind. Alles glückliche, was Frauen schreiben, sollte wie Briefe behandelt und nur unter denselben Bedingungen, mit denselben Vorsichten öffentlich werden; selbst gedruckte Briefe der Männer würden ihres Reizes entbehren, wären sie mit dem Gedanken an jemalige Herausgabe aufgesetzt worden. Wir haben nicht überschlagen, wie viel Deutsche Schriftstellerinnen das vorige Jahrhundert hervorgebracht hat, von 1700 bis 1770 mögen ihrer zehnmal weniger sein, als von da bis 1800, in diesen dreißig Jahren wieder kaum die Hälfte soviel, als von 1800 bis 1820 auftraten; eine niederschlagende Progression. So hat die Sucht zu reimen, zu deklamieren eine die andere genährt. Hrn. von Schindels Sammlung wird ungefähr dreihundert Dichterinnen aufstellen (Emilie Gleim darunter ist, seiner Nachweisung zufolge, ein Mann). Wenn sich nun in dem Haufen von Büchern und Gedichten, aus diesen weiblichen Händen hervorgegangen, kein einziges wirklich originales, kein mit dem Genius lebendiger Poesie gestempeltes vorfindet, wenn, gesetzt daß alle ungedruckt geblieben wären, unsere Literatur das nämliche Ansehen, welches sie hat, haben, der Gang unserer Dichtkunst um kein Haarbreit verrückt worden sein würde, was soll man daraus schließen? Dem Geiste einer Frau von Stael, die in der Französischen Literatur mit Macht einschreitet, ist keine Deutsche Autorin bei weitem gewachsen. Das sei unserm Volke nicht Tadel, sondern Ruhm. Unsere Schriftsteller haben sich nicht so viel sagen zu lassen, als Frau von Stael den Franzosen vorhält. Die Geschichte der Poesie des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts, welche von unseren heutigen Gelehrten so verdienstlich angebaut wird, - zeigt sie uns doch auch, zwar Französische, provenzalische Damen, Nachahmerinnen der Troubadours, nur keine einzige Deutsche Frau, die sich in die Reihe der Deutschen Sänger jener Zeit gewagt hätte. Einem Volke vor andern ist das Gefühl fräulicher Sitte zu Teil geworden; müssen wir annehmen, es habe sich unter uns geschwächt? Die Formen wechseln, der Grund, auf dem sie ruhen, dauert fort. Die Form hat gewechselt, aber noch heute, wie vor fünfzig Jahren, ergreift uns die Wahrheit der Aufsätze des trefflichen Mösers, überschrieben: die gute selige Frau und die allerliebste Braut, welche im ersten Bande seiner Patriotischen Phantasien zu lesen stehen. Rez. hat sich erschreckt vor der bedeutenden Zahl unglücklicher, gestörter und geschiedener Ehen, welche die vorliegenden Lebensgeschichten deutscher Dichterinnen ergeben: hier spielt kein Zufall; die Frau, welche einmal aus dem Kreise natürlicher Bestimmung weicht, gerät mit sich selbst in Zwiespalt, sie kann nicht mehr leisten und ertragen, was ihr gebührt. Ein Zeichen tüchtiger Dichter ist unter andern, daß sich ihre Weiber von dem Mit- und Nachdichten neben ihnen frei halten. Ob Herausgeber von Büchern, wie das gegenwärtige, nicht auch gewissenhaft erwägen sollten, daß sie die Dichterei anfachen, und indem sie den Schleier der Anonymität lüften, manches gute Mädchen, dessen Verse unvorsichtige Verwandten oder Freunde zum Druck befördert haben, zu neuen eitelen Versuchen reizen? Überdies tragen sie Neues und Unnützes zu dem Schwall und Wust von literarischen, biographischen Angaben, welche seit Meusel und seinen, beleibten oder schmächtigen, Nachfolgern die Deutsche Literaturgeschichte so langweilig, fast ungenießbar machen. Vielleicht liegt die Zeit nicht mehr fern, wo ein gesunderer Sinn der Kritik und historischen Forschung endlich solchen Aufhäufungen steuert. Für dunkle, frühe Perioden ist die Jagd nach Namen, Jahrszahlen, Titeln und allen kleinlichen Umständen am rechten Ort und hat einen Sinn; sie dienen das Bild der Vergangenheit zu heften und zu fassen. Heutigestages, wo die Leichtigkeit, jedes beschriebene Blatt im Druck zu verbreiten, Heere mittelmäßiger und schlechter Bücher zeugt, die auf das Wesen unserer Literatur nicht den mindesten Einfluß haben, die je eher je besser vergessen werden dürfen, sollen wir bloß das Wahrhaft Große ins Auge nehmen. Die Nachwelt kann auch nichts anderes aus unserer Zeit gebrauchen. Und dieses Große sondert sich jetzt von dem Gemeinen gleichsam von selbst, die Literatur wird immer individueller, während in früheren Jahrhunderten Gutes und Schlechtes ungetrennter gewesen zu sein scheinen und auch darum ihre Betrachtung schärfer ins Einzelne gehen muß.
Diese Rezension erschien in: Göttingische gelehrte Anzeigen, 1822, 169. St. (1822), S. 1681-1684.
Zitiert nach: Jacob und Wilhelm Grimm: Ein Lesebuch für unsere Zeit, hrsg. von Ruth Reiher. Berlin: Aufbau Taschenbuch 1993, S. 232-235.
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