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Dorothea
(1763-
 
 Schlegel
1839)
 
 
 
[Mein Lied, was kann es Neues euch verkünden?]
 
Mein Lied, was kann es Neues euch verkünden?
Und welche Weisheit, Freunde, fordert ihr?
Der Hohen meine Jugend zu verbünden,
Dies, wie ihr wißt, gelang noch niemals mir.
Noch Neu, noch Alt wußt' ich je zu ergründen;
Das Schicksal gönn im Alter Weisheit mir.
Wir irren alle, denn wir müssen irren,
Gelassen mag die Zeit den Knäul entwirren.
 
Der Waldstrom braust im tiefen Felsengrund,
Gar schroffe Klippen führen drüber hin,
Die furchtbar hängen überm finstern Schlund;
Wer strauchelt, dem ist sichrer Tod Gewinn!
Ein Müder wankt an Geist und Gliedern wund
Daher, schaut bang hinab, kalt graust der Sinn:
Am Felsen spielt ein Kind, sorglos bemühet
Ein Blümchen pflückend, das am Abgrund blühet.
 
Oft mühten sinnreich Dichter sich und Weise,
Das Leben mit dem Leben zu vergleichen.
Am glücklichsten geschah's im Bild der Reise!
Ein Tor eröffnet Armen sich, wie Reichen;
Früh ausgewandert auf gewohnten Gleise
Sieht er die Dämmrung kaum dem Licht entweichen,
So treibt der Wahn, ihm dürf's allein gelingen,
Rastlos in nie erreichte Fern' zu dringen.
 
Es türmen Felsen sich in seinen Wegen,
Des Mittags Strahlen glühn auf seinem Haupt,
In Wüsten Sands muß sich der Fuß bewegen,
Ein Ungewitter naht, der Sturmwind schnaubt,
Wo kommt ein sichres Dach dem Blick entgegen?
Es seufzt nach Ruh, wem stolzer Mut geraubt;
In später Nacht, nach tausendfält'ger Not
Kömmt er ans Ziel - und dieses ist - der Tod!
 
Der Jüngling tritt, von Ahndung fortgezogen,
Zur Schwelle hin, die in das Leben führt.
An seiner Schulter tönt der goldne Bogen
Der Göttin, so die Welt ihm hold verziert,
Der Phantasie, die ihn auf kühnen Wogen
Sanft fortreißt, ihn mit bunten Bildern rührt.
Wenn er dann so nach schönen Träumen hascht,
Wird unbewußt vom Glück er überrascht.
 
Gebt acht, gebt acht, Gelegenheit ist flüchtig.
Nicht leicht ihr Stirnenhaar im Flug zu fassen.
Obgleich zu nützen sie ein jeder tüchtig,
Dem's klug gelang, sie nicht entfliehn zu lassen,
So ist dem Würdigen sie nie so wichtig,
Daß er von ihr sich mag bestimmen lassen.
Doch was hilft Mut, was mächtiges Bestreben
Dem Schiff, das tollen Stürmen preisgegeben?
 
So mancher hat gefunden, was zu suchen
Er gleichwohl nicht verstand, was zu gewinnen
Vergebens er, und mühvoll wird versuchen;
Mißlingen droht dem treulichsten Beginnen.
Wie viele hört man dann ihr Los verfluchen
Und klagen: »Glück! o mußtest du zerrinnen?«
Was traut ihr müßig auf des Glückes Gunst?
Natur sei Vorbild, Leben eine Kunst!
 
Wer hebt des Künstlers Mut in Kampf und Leiden
Als ferne Ahndung hoher heil'ger Liebe?
Was lehrt ihn schellenlaute Torheit meiden
Als eignes Glück der süßen zarten Liebe?
Wo ist ein Port für Hohn und böses Neiden,
Als in den Armen frommer, treuer Liebe?
Und wird des Helden Stirn in Myrtenkränzen
Der Nachwelt schöner nicht, als Lorbeer glänzen?