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Karoline
(1754-
 
 Rudolphi
1811)
 
 
 
Vom Werth des Lebens
 1775
 
Ja, das Leben ist des Himmels Gabe,
  Ist des tiefsten, wärmsten Wunsches werth;
Sagt das nicht der schwache Greis am Stabe,
  Der den Tod mit Zittern kommen hört?
 
Sagt das nicht der Säugling in der Wiege,
  Wenn der kalte Schauer ihn befällt,
Und der Todeskampf die kleinen Züge,
  Jedes Lächeln, jeden Reiz entstellt?
 
Sagt das nicht mit sanftem Flehn die Taube,
  Wenn des Geiers Mordsucht sie bedroht?
Sagt das nicht der kleinste Wurm im Staube?
  Ach! sich windend leidet er den Tod.
 
Selbst das Daseyn, nur des Lebens Schatten,
  Selbst das Daseyn, ist es nicht ein Guth?
Auch die kleinsten Hälmchen auf den Matten
  Sterben traurig unter Sonnengluth.
 
Und aus Gräbern unter dichtem Moose,
  Drängen Blumen eilend sich hervor.
Zwischen Dornen hebt die junge Rose
  Froh ihr glühendes Gesicht empor.
 
Zwar uns Arme drücken tausend Plagen,
  Von der Wiege bist zum frühen Grab;
Aber tausend, tausend Freuden sagen,
  Daß ein guter Gott das Leben gab.
 
Und gerührt im mütterlichen Herzen
  Steht am Wege die Glückseeligkeit,
Trauert, wenn wir wählen bittre Schmerzen,
  Statt des Segens, den sie hold uns beut;
 
Trauert, daß uns Wahn und Ehrsucht thören,
  Wenn uns glücklich seyn die Weisheit lehrt;
Daß wir ihren süßen Ruf nicht hören
  Und verkennen unsern eignen Werth.
 
Beut dem Hirten hinter seiner Heerde,
  Wie dem Fürsten, ihre Freuden dar,
Liebt noch immer ihre kleine Erde,
  Die ihr Sitz in goldnen Zeiten war.
 
Ja, das Leben ist des Himmels Gabe,
  Werth, daß Dank in unsern Adern schlägt;
Fühlt das nicht, auch bey der kleinsten Habe,
  Wer ein reines Herz im Busen trägt?