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Annette von
(1797-
 
 Droste-Hülshoff
1848)
 
 
 
Der kranke Aar
 
Am dürren Baum, im fetten Wiesengras
Ein Stier behaglich wiederkäut' den Fraß;
Auf niederm Ast ein wunder Adler saß,
Ein kranker Aar mit gebrochnen Schwingen.
 
»Steig auf, mein Vogel, in die blaue Luft,
Ich schau dir nach aus meinem Kräuterduft.« -
»Weh, weh, umsonst die Sonne ruft
Den kranken Aar mit gebrochnen Schwingen!«
 
»O Vogel, warst so stolz und freventlich
Und wolltest keine Fessel ewiglich!« -
»Weh, weh, zu viele über mich,
Und Adler all, - brachen mir die Schwingen!«
 
»So flattre in dein Nest, vom Aste fort,
Dein Ächzen schier die Kräuter mir verdorrt.« -
»Weh, weh, kein Nest hab' ich hinfort,
Verbannter Aar mit gebrochnen Schwingen!«
 
»O Vogel, wärst du eine Henne doch,
Dein Nestchen hättest du, im Ofenloch.« -
»Weh, weh, viel lieber ein Adler noch,
Viel lieber ein Aar mit gebrochnen Schwingen!«