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Karoline
(1754-
 
 Rudolphi
1811)
 
 
 
Die Denkkraft
 
Wohl uns, wohl uns, daß weder Ziel noch Schranken,
Wohl uns, daß weder Raum noch Zeit
Ihn hemmen, den beflügelten Gedanken! -
Er ist ein Sohn der Ewigkeit.
 
Er spottet aller Fesseln, aller Kerker,
Spricht zum Despoten: ich bin frey!
Bewacht ihn, schmiedet eure Fesseln stärker;
Er sagt euch lachend: ich bin frey!
 
Er faßt (wie Simson Gasa's Thor und Riegel)
Was seine Urkraft lähmen will,
Und trägt's davon auf seinem raschen Flügel;
Wer mag ihm sagen: stehe still!
 
Er greift verwegen in der Schöpfung Räder,
Schließt ihre tiefe Werkstatt auf
Und handhabt kühnlich ihre große Feder,
Und schaut ins Vaterland hinauf.
 
Vom Schöpfungswink bis zum Posaunenschalle,
Der das Signal zur Schmelzung giebt,
Beschaut sein Blick des Ganzen Intervalle,
Und folgt dem Stäubchen das verstiebt! -
 
Er stellt sie fest, der Möglichkeiten Schranken,
Schwingt sich im Nu vom Nichts zum All,
Vom All zum Nichts - was macht ihn wanken?
Was fördert des Giganten Fall?
 
O daß er seine hehre Kraft verschwendet!
O daß die Hand der Leidenschaft
Des Hauptes Locken kosend ihm entwendet,
Und ihn zur Schmach mit Blindheit straft!