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Karoline
(1754-
 
 Rudolphi
1811)
 
 
 
Der Geist
 
O du, der schnell, behend' und ungezügelt,
Wie Licht und Zeit und Schall und Blitz,
Im Nu das weite Weltall überflügelt,
Wo hast du, Wunderbarer! deinen Sitz?
 
Bist du verwebt, verflochten im Gehirne?
Wohnst du vertheilt im weichen Mark?
Begrenzet dich der enge Raum der Stirne?
Macht dich des Blutes Kreislauf schwach und stark?
 
Und wärest du kein Stern von eignem Lichte?
Wärst nur ein flatternd Meteor?
Ein hüpfend Irrlicht, das dem Allgesichte
Sich täuschend naht' und plötzlich sich verlor ?
 
Du wärst ein Sumpfgebohrner? nimmer! nimmer!
Du gottverwandter Fremdling, bist
Ein hehrer Wiederschein von dessen Schimmer,
Der Welten zählt und Ewigkeiten mißt.
 
Du bist ein Licht, das nimmer sich verzehret,
Das gleich dem Urborn nie versiegt,
Deß Brennstoff sich in dem Gebrauche nähret,
Der stündlich aushaucht, und doch nie verfliegt.
 
Sag an, wie kamst du, Himmelskind, hernieder?
Was suchst du in der Sinnenwelt?
Was thatest du den Himmlischen zuwider,
Daß sie dich strafend zu dem Staub gesellt?
 
Was will mit dir der bleyerne Gefährte,
Der lastend dir sich an die Flügel hing,
Der dir den Flug ins Vaterland erschwerte,
Der dich so fest umstrickend hier umfing?
 
Was willst du mit dem irdischen Gespielen,
Dem Körper? was gewährt er dir?
Wohin kann eure Pilgerfreundschaft zielen?
Du bist ein Gott, dein Pilgerfreund ein Thier. -
 
Doch - brauchtest du zur Reife, zur Vollendung
Die Reise durch dieß Labyrinth,
So geh getrost durch seine dunkle Wendung,
Du staubverhülltes, hehres Himmelskind!
 
Nützt dir die Wallfahrt, dient der Staub zum Weiser,
Zum Führer durch dieß Sinnenland?
Wohlan! so wallt, ihr wunderbaren Reiser,
Und knüpft es fest, das ungleichart'ge Band.
 
Nur daß der Beßre stündlich kämpf' und wache,
Daß der Gefährt' ihn nicht besiegt,
Nur daß der Sklav' ihn nicht zum Sklaven mache,
O daß der Himmelssohn nicht unterliegt!