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Karoline
(1754-
 
 Rudolphi
1811)
 
 
 
Die Gegenwart
 
Kurz, ach kurz ist diese Spanne Leben!
Und - wie's unsichtbare Hände weben,
Bleibt's, o Sterblicher! gewebt.
Nichts ist, das den kalten Boten ferne;
Eilend kommt und löscht er die Laterne:
Wer gelebt hat, hat gelebt. -
 
Leere denn des Lebens vollen Becher
Still und fröhlich, eh' das Lämpchen schwächer,
Dem Verlöschen näher scheint.
O genieß, genieß, was dir beschieden;
Gönne deinem armen Herzen Frieden:
Sey, o Mensch! dein eigner Freund.
 
Laßt uns froh das Heute heute nützen:
Nur genießen heißt wahrhaft besitzen;
Wer nur sehnend vorwärts strebt,
Immer aus der Zukunft Füllhorn naschet,
Wer die Gegenwart nicht eilend haschet,
Hat geträumt, hat nicht gelebt.
 
Alle Blumen taugen nicht zum Kranze:
Viele täuschen dich mit falschem Glanze,
Und verhüllen fressend Gift.
Deß gewahrt der Kenner, eh' er pflücket. -
Eh' er seinen Lebensbecher schmücket,
Hat er still und scharf geprüft.
 
Schöpfen, wo der Quell am klarsten quillet,
Nimmer trinken, wenn der Durst gestillet,
Macht stets wacker zum Genuß.
Freundlich giftversehrte Brüder heilen,
Liebevoll den reinen Becher theilen,
Wahrt dein Herz vor Überdruß.
 
Leb', o lebe; denn mit raschem Schritte
Eilt der Bote vom Palast zur Hütte,
Löscht, wie's kommt, die Fackel, strebt
Jeglichen Moment nach neuer Beute:
Willst du leben, thu es heute, heute!
Wer gelebt hat, hat gelebt.