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Anna Louisa
(1722-
 
 Karsch
1791)
 
 
 
Auf den Tod einer Nachtigall
 
Seufze Mitleid, mein Gesang,
In Selindens bittre Klage,
Sie beweinet nächtelang
Einen Vogel, der die Tage
Ihrer Jugend traurig macht -
Ihre Freuden sind verdorben,
Sind um allen Reiz gebracht,
Denn ihr Liebling ist gestorben.
 
Feiner menschlicher Verstand
Schien den Vogel zu beleben,
Wenn er von der schönen Hand,
Die ihm einen Wurm gegeben,
Auf den schönern Busen flog,
Und den Kuß von blauen Augen
Und vom Rosenmunde sog,
Wie die Bienen Honig saugen.
 
Wann Selinde freundlich sprach:
Komm und singe mir die Liebe;
Ach! da sang er alles nach,
Was die Regung sanfter Triebe
In beflammten Seelen spricht;
Jedes Leiden und Entzücken
Wußt er durch ein süß Gedicht
Hundertstimmig auszudrücken.
 
Sein begeistert Augenpaar;
Schwatzte Wollust unterm Singen,
Feuer und Empfindung war
In des Tones Höherschwingen,
Wann er dreyßigmal gegirrt,
Und ihn dann so stark erhoben,
Daß es in der Luft geschwirrt
Bis zum Sitz der Götter oben.
 
Aber nun ist er dahin,
Ihn ergreift ein zehrend Fieber,
Und des Schicksals Eigensinn
Blieb ganz ungerührt darüber,
Als die Thränen wie ein Bach
Auf den kranken Sänger flossen,
Der noch immer matt und schwach
Sang, bis sich die Augen schlossen.
 
Sein vernunftbegabter Geist
Flog davon, ist nicht im Kahne
Zur Proserpina gereist;
Nein, er hub auf grader Bahne
Zum Olympus sich empor,
Und da krümelt ihm Cythere
Götterbrodt die Menge vor,
Und da singet er ihr zur Ehre -