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Anna Louisa
(1722-
 
 Karsch
1791)
 
 
 
An ihren verstorbenen Oheim,
den Unterweiser ihrer Kindheit.
             1761.
 
Kommt heraufgestiegen aus dem Sande
Ihr Gebeine, die ihr in dem Lande
Meiner Jugend eure Ruhe habt!
Teurer Greis, belebe deine Glieder,
Und ihr Lippen redet einmal wieder,
Die ihr mir der Lehren Honig gabt!
 
Oder du, auf des Olympus Höhe
Weißer Schatten, siehe! wo ich gehe:
Hinter Rindern auf der Weide nicht!
Blick auf diese feinern Menschen nieder,
Alle reden deiner Nichte Lieder;
Hör auf ihr Gespräch, dein Lobgedicht!
 
Ewig grünen muß die breite Linde
Wo ich, gleich des besten Vaters Kinde,
Zärtlich dir an deinem Halse hing,
Wenn dich, müde von des Tages Länge,
Wie den Schnitter von der Arbeit Menge,
Wenn dich matt die Rasenbank empfing.
 
Unter jenem Dache grüner Blätter
Wiederholt ich von dem Gott der Götter
Zwanzig unverstandne Stellen dir!
Aus der Christen hochgehaltnem Buche
Sagt ich dir von manchem dunkeln Spruche,
Frommer Mann! und du erklärtest mir,
 
Gleich den Männern, die in schwarzen Röcken
Auf der hohen Kanzel uns entdecken,
Welcher Weg zum Leben richtig ist.
Wenn du von dem Fall und Gnadenbunde
Sagtest, o dann wurden deinem Munde
Alle Worte zärtlich aufgeküßt!
 
Du Bewohner einer Himmels-Sphäre!
Siehe, meiner Freuden stille Zähre
Fließet über meine Wangen oft.
Kannst du reden, teurer Schatten? sage,
Ob dein Herz für meine Lebenstage
Glück und Ehre dazumal gehofft,
 
Wenn mein Auge, liegend auf dem Blatte,
Täglich weisre Schriften vor sich hatte,
Wenn ich auf der Wiese Blümchen las,
Sie in meinen kleinen Händen brachte,
Sie zur Zierde deiner Haare machte
Und auf Rosen lächelnd bei dir saß?
 
Sei mir dreimal mehr mit Licht bekleidet,
Mit der Gottheit Blicken mehr geweidet
Als die andern Seelen um dich her!
Für die Tropfen alle, die mir werden
Aus dem Freuden-Becher hier auf Erden,
Tränke dich der Seligkeiten Meer!