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Elisabeth
(1808-
 
 Kulmann
1825)
 
 
 
Der Frühling
 
Schnee deckt Gebirg und Ebne;
Eis fesselt Meer und Flüsse;
Wie gräßliche Gerippe
Stehn Waldung und Gebüsche.
Im Herbste starb die Sonne,
Seitdem herrscht Tod auf Erden ....
 
Was seh' ich? ... Unsichtbare
Und rasche Hände rollen
Das finstere Gewölke,
Das uns den Winter über
Des Himmels Anblick raubte,
Wie einen Reisemantel
Zusammen, und es öffnen
Sich angelweit die Thore
Der hellazurnen Wohnung
Der Sonne, der verjüngten,
Der neuen, jetzo münd'gen
Beherrscherin der Erde!
Nach allen Seiten stürzen
Von ihres Thrones Fuße,
Wie flüssig Gold und Silber,
Sich volle Lebensbäche
Zur starren Erde nieder.
Der stürzt in's Meer, und schmelzet
Der Wogen starke Bande:
Seht! dichter Qualm entsteiget
Dem Kampf der Elemente.
Der stürzt auf das Gebirge,
Und die entfernten Berge
Erscheinen blau, die nahen
In anmuthsvollem Grüne.
Der stürzet auf die Ebne,
Und der einfärb'ge Schnee wird
Zu tausendfarbnen Blumen;
In üppigem Gewande
Erscheinen Wald und Büsche.
Horcht! ... Eine graue Wolke,
An Form dem Meerschiff' ähnlich,
Durchschneidet raschen Laufes
Der Lüfte blaue Wellen;
Harmonisches Geflöte
Enttönet ihrem Schweben,
Je näher, desto voller,
Anmuthiger, erhabner!
Ist's eine Zauberwolke,
Der eine Fee in heitrer,
Scherzhafter Laune Leben
Und Stimme mitgetheilet ...
O anmuthsvoller Irrthum!
Es sind die Sängerinnen,
Des Lenzes Zauberkehlen,
Ein Heer von Nachtigallen!
Den Schaaren der Erobrer
Nicht ungleich, nehmen schnell sie
Besitz von Hain und Walde,
Und lassen sich da nieder,
Um alles rings mit Leben
Und Wohllaut zu erfüllen!
 
 
 

Anmerkung des Herausgebers K. F. von Großheinrich:
 
1.) Was wir früher von ihrer Gewohnheit sagten, die gewählten Gegenstände mit großen, scharfen und ihnen völlig eigenthümlichen Zügen darzustellen, bewährt sich, so dünkt es uns, noch anschaulicher in dieser Gruppe der Jahrszeiten. Wir finden uns, der, durch genaue Beobachtung des jedesmaligen Verfahrens der Verfasserin, von uns erlangten Kenntniß aller ihrer Eigenheiten zufolge, hier genöthigt, noch eine andere Bemerkung zu machen. Anders wurde sie jede der vier Jahrszeiten bearbeitet haben, wenn sie nicht bestimmt gewesen wären, sich dem Leser in einer Gruppe darzustellen, sondern zerstreut in ihren Gedichten zu erscheinen. Im letztern Falle würde sie uns jede derselben, aller Wahrscheinlichkeit nach, in erschöpfenden Zügen gezeigt haben, d. i. sie würde die charakteristischen Eigenheiten einer jeden Jahrszeit auf eine Art gezeichnet haben, daß es dem Leser schwer geworden wäre, sowohl etwas hinzuzufügen als davon wegzunehmen, und wohlverstanden, dieses mit dem geringsten Wortaufwande zu erreichen gestrebt haben.
 
2) Hier werden wir eine neue Seite ihres dichterischen Talentes gewahr: ihre Neigung durch Kontraste zu zeichnen. Um das, was sie uns über den Frühling zu sagen hat, stärker hervortreten in lassen, schickt sie, in vier Strichen, eine Beschreibung des Winters voran. Die Folge wird uns zeigen, wie viele Vortheile sie aus diesem einzigen Elemente zu ziehen wußte. Wir sagen Element weil wir sicher zu sein glauben, daß ihre Neigung zu Kontrasten ein Grundzug ihrer poetischen Natur war.
 
3) Uns gefällt die Personificirung der ankommenden Nachtigallen ungemein wohl.